Impuls zum 24. März 2024
Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), Geistlicher Beirat pax christi Deutsche Sektion e.V.
Einstieg in die Karwoche: Gewalt will angeschaut werden
Vorneweg: Am Kreuz: Gewalt will angeschaut werden
Mit diesem Sonntag beginnt für Christinnen und Christen die Karwoche. In diesen Tagen schauen wir besonders auf das Kreuz. Es gerät in unseren Breiten immer mehr ins Hintertreffen. Man weiß nicht so recht, was man mit ihm anfangen soll. Es verschwindet leise aus Zimmern, Wohnungen und Gebäuden. Das Zentralsymbol des Christentums will nicht mehr recht in unsere Kultur passen.
Gleichzeitig erreichen uns tagtäglich Nachrichten von Kreuz-Erfahrungen: von unvorstellbarer Gewalt, Krieg, Flucht, Tod – von Mord, Terror, Missbrauch, Hunger. Da drängt sich quasi Gewalt auf, täglich angeschaut zu werden. Das ist oft kaum auszuhalten. Menschen werden geschunden, vertrieben, vergewaltigt, geschlagen, getötet, zu Opfern gemacht. Kreuz-Erfahrungen in der Nähe und Ferne – nicht zu zählen. Heute am Palmsonntag 2024 ist auch der Todestag von Oscar Arnulfo Romero, dem Märtyrerbischof aus El Salvador.
Das Kreuz ist ein Stück unserer Realität. Das Kreuz, das auf Golgatha in die Erde gerammt ist, steht für diese Realität. Es bildet die nackte Wahrheit ab. Der da hängt, ist ausgezogen, seiner Kleider beraubt, ist ein Opfer menschlicher Gewalt - mit einem „Haupt voll Blut und Wunden“. Kann es sein, dass wir dies nur schwer aushalten können? Ist das der Grund, warum wir Kreuze seltener aufhängen, sie vergolden, versilbern oder künstlerisch „schön“ machen?
Ein Folterinstrument als Zeichen ist eine übergroße Zumutung, weil es Gewaltanschauung pur ist. Mit dem Kreuzestod haftete an Jesus das Stigma des Von-Gott-Verfluchten, des Von-Gott -Verlassenen. Durchblick kam erst später. Und mit ihm die Einsicht, die Gewalt und die Not von Menschen anschauen zu müssen. Keine Religion stellt so entschieden wie das Christentum den geschlagenen Menschen in den Mittelpunkt seines Glaubens und seiner Hoffnung. „Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.“ So steht es auch wörtlich im Johannes-Evangelium (19,37).
Leiden und Tod werden nicht länger wegerklärt, wegmeditiert oder weggeschoben. Sie werden im zentralen christlichen Zeichen dargestellt. Gewaltanschauung ist angesagt. Die Gewalt, zu der Menschen fähig sind, ist anzuschauen, zu benennen und anzuklagen, ohne in die Spirale der Gewalt einzusteigen. Die Opfer sind anzuschauen und zu erinnern. Jesus von Nazareth ist einer von ihnen, für uns Christenmenschen der Inbegriff von Gottes Treue und Liebe und deshalb Trost. Für andere ist er ein Narr und ein Tor ohne Realitätssinn.
Die Begegnung mit dem „Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn“ konfrontiert mich in der kommenden Woche unerbittlich mit der Frage: Warum und wozu wird so viel gestorben und getötet? Hängt mein Wohl-Ergehen mit dem Schlecht-Ergehen anderer zusammen? Was kann ich tun, um Gewalt zu stoppen und Eskalation zu unterbrechen?
Eingebunden: Zwischen Angst und Hoffnung
Zwischen Angst und Hoffnung leben wir
Und möchten doch gern glücklich sein und Sinn erfahren.
Wenn Zweifel und Enttäuschung uns bedrängen:
Schenke uns Zukunft und Hoffnung – Gott des Lebens, Grund unserer Hoffnung.
Zwischen Angst und Hoffnung treiben wir
Und möchten doch gern vorwärts gehen und Ziele sehen.
Wenn Dunkelheit und Finsternis über uns kommen:
Rette uns ins Licht und in die Freiheit – Gott der Menschen, Grund unserer Hoffnung
Zwischen Angst und Hoffnung schwanken wir
Und möchten doch dein Schöpfungswerk erhalten und bewahren.
Wenn Verschwendung und Zerstörung überhand nehmen:
Gib uns Phantasie und Tatkraft – Gott der Schöpfung, Grund unserer Hoffnung.
Zwischen Angst und Hoffnung träumen wir
Und ersehnen eine neue Welt und einen neuen Menschen.
Wenn Armut und Gewalt die Völker entzweien:
Hilf uns zu Gerechtigkeit und Frieden – Gott der Geschichte, Grund unserer Hoffnung.
Gott, du bist ein Freund des Lebens
Und willst, dass alle Menschen das Leben in Fülle haben
Ermutige uns,
dass wir Zeugen dieser Botschaft sind
dass wir Vertrauen säen, wo Ängste sind
dass wir Mut machen, wo Verzagtheit ist
dass wir Kraft schenken, wo Schwachheit lähmt
dass wir Dienerinnen und Diener der Hoffnung seien
und Freundinnen und Freunde des Lebens. AMEN
Nach Gotteslob 677,4
Der Einzug Jesu in Jerusalem - Markus 11, 1-10
Als sie in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage und Betanien am Ölberg, schickte er zwei seiner Jünger aus. Er sagte zu ihnen: Geht in das Dorf, das vor euch liegt; gleich wenn ihr hineinkommt, werdet ihr ein Fohlen angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat. Bindet es los und bringt es her! Und wenn jemand zu euch sagt: Was tut ihr da?, dann antwortet: Der Herr braucht es; er lässt es bald wieder zurückbringen. Da machten sie sich auf den Weg und fanden außen an einer Tür an der Straße ein Fohlen angebunden und sie banden es los. Einige, die dabeistanden, sagten zu ihnen: Wie kommt ihr dazu, das Fohlen loszubinden? Sie gaben ihnen zur Antwort, was Jesus gesagt hatte, und man ließ sie gewähren. Sie brachten das Fohlen zu Jesus, legten ihre Kleider auf das Tier und er setzte sich darauf. Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg aus, andere aber Büschel, die sie von den Feldern abgerissen hatten. Die Leute, die vor ihm hergingen und die ihm nachfolgten, riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!
Die Kraft der Liebe im Handeln
Da wird am Palmsonntag bei allen Evangelisten eine Inszenierung beschrieben, die eine alte Verheißung im Blick hat. Am Palmsonntag 2024 aus dem Markus-Evangelium. Gezielt geht dieser Jesus mitten hinein in das Herrschaftszentrum des römischen Imperiums und der jüdischen Religion: Jerusalem. Er sitzt nicht hoch zu Ross. Er kommt nicht mit Soldaten und Waffen. Sein Einzug ist voller Symbolsprache. Er kommt auf einem Esel, auf dem vorab noch niemand geritten hat. Dieser Esel – ein Bild des Anfangs – mit ihm kann etwas Neues beginnen. Alle schriftkundigen Landsleute sollen an den Propheten Sacharja (9,9-12) denken. Dieser hat einen auf einem Esel einziehenden Friedenskönig für Israel vorausgesehen. „Gerecht“ und „demütig“ ist er, „Streitwagen“, „Streitrosse“ und „Kriegsbogen“ merzt er aus. Allen Völkern verkündet er Frieden und den Gefangenen Freiheit.
An Jesus kann man erkennen, wie diese Vision wahr zu werden beginnt. Er bleibt auf Augenhöhe mit den Menschen und nutzt seine soziale Position, um die ‚reinzuholen‘, die aufgrund repressiver Konventionen ‚draußen gehalten‘ werden, die als ‚unrein‘ markiert werden. Er ist menschenfreundlich. Es geht ihm um eine Liebe, bei der jeder Mensch sich angenommen wissen darf. Liebe allein rettet und führt zu Frieden und Gerechtigkeit. Nur so geht Gottes Herrschaft voran. Alles andere ist für Jesus zweitrangig – offenkundig auch Lebensgefahr und tödlicher Konflikt.
Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit ist das, was er wollte. Keine Gewalt!
In Jesu Spur zu bleiben, das bedeutet für mich, gegen jede Form von Gewalt Stellung zu beziehen. Jesu Gewaltfreiheit war nicht schwach, sie war die Kraft der Liebe im Handeln. Sie ist die Grundhaltung, die keine Angst davor hat, dem Bösen mit Liebe und Wahrheit entgegenzutreten, die anerkennt, dass alle Menschen als Ebenbilder Gottes eine Würde haben. Deshalb braucht es den Kampf gegen Hassrede und Krieg, gegen Atomwaffen und Aufrüstung. Es braucht eine neue Lehre gerechten Friedens, der auf der Gewaltfreiheit des Nazareners gründet.
Eine Bitte um Segen: Dass wir ein Gegengewicht gegen Verzweiflung sein mögen
Der du unsere Lebenstage kennst
und ihre Freude, ihre Leere,
ihre lange Dauer –
der du hinter allem Tod
verborgen bist, der Lebende,
gedenke unser hier –
der keinen Namen je vergisst,
kein Menschenkind verachtet,
gedenke unser und segne uns.
Geh nicht weg aus dieser Welt,
wir werden niemals Menschen werden,
wenn du uns nicht lenkst.
Überlass die Menschen nicht einander,
die Menschen in Palästina und Israel,
die Menschen in Russland und der Ukraine,
die Menschen hier bei uns,
die Menschen im Jemen und im Irak,
die Menschen im Südsudan und in Afghanistan,
Weiße und Farbige,
Hungrige und Gesättigte,
Arme und Reiche,
Entrechtete und Unterdrückende.
Der du der Ursprung bist
von allem Guten, das getan wird:
Sei in unseren Herzen, in unserer Seele,
in unserem Verstand,
dass wir vielleicht imstande sind,
das ärgste Leid etwas zu mildern,
dass wir ein Gegengewicht gegen Verzweiflung sein mögen;
dass alle, die sich Menschen nennen,
nicht fortfahren mit der Verwüstung dieser Erde,
mit der Jagd auf Menschen, mit dem Mord.
Lass leuchten über uns dein Angesicht.
Und gib uns Frieden.
Gedenke deiner Menschen,
damit sie nicht umsonst geboren sind.
(Nach: Huub Oosterhuis, Mitten unter uns, S. 103f)
Eine Erinnerung an Oscar Arnulfo Romero
Ich möchte kurz erinnern an eine große Persönlichkeit der Kirche der Unterdrückten in Zentralamerika. Es ist Oscar Arnulfo Romero – für mich ein Vorläufer im Glauben. Seine Geschichte ist die Geschichte einer großen persönlichen Veränderung, die manche sogar eine Bekehrung nennen. Nur drei Jahre lang hat Oscar Romero als Erzbischof in El Salvador wirken können. Dann wurde er von den sog. Todesschwadronen im Auftrag der Regierenden ermordet – während eines Gottesdienstes. Das war am 24. März 1980 gegen 18:30 Uhr Ortszeit - also heute vor genau 44 Jahren. Erzbischof Romero verlor sein Leben, weil er sich mit seiner ganzen Kraft gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit in seinem Land, und damit für die und mit den Ärmsten der Armen eingesetzt hatte.
Zum Verständnis muss man wissen, dass es damals in El Salvador neben einer total geringen Entlohnung für kraftzehrende Arbeit eine fortschreitende Unterdrückung durch die Militärs gab, dass es eine rückgängig gemachte Landreform gab: 40.000 Hektar Land – im Besitz von 250 Personen – hatten Anfang 1977 unter 12.000 arme Bauernfamilien aufgeteilt werden sollen. Das war der erste Versuch einer Landreform des Kongresses von El Salvador, die traditionellen Agrarstrukturen seit der Conquista im 16. Jahrhundert geringfügig zu ändern. Und es gab eine durch betrügerische Wahlen aufrechterhaltene Diktatur einer kleinen Minderheit der 14 Familien, die den Reichtum des Landes und das fruchtbare Land unter sich aufgeteilt haben. Bis heute ins Jahr 2024 ist das dort so! 2% der Bevölkerung, die sog. 14 Familien, besitzen über 70 % des Landes. Diese Oligarchie sorgte dafür, dass alle Koalitionen, alle gewerkschaftlich-genossenschaftlichen Zusammenschlüsse der Landarbeiter als illegal zu gelten hatten, sozusagen ein Verbrechen waren. Ein klarer Verstoß gegen die christliche Sozialethik im „Land des heiligsten Erlösers“ - so heißt ja „El Salvador“ übersetzt!
Romero erkannte immer mehr: Es ist nicht der Wille Gottes, dass Menschen im Elend leben, dass Kinder hungern, an einfachen Krankheiten sterben müssen, dass Kinder nicht zur Schule gehen können. Im Gegenteil: Der Gott Jesu will Leben, Gerechtigkeit und Menschenwürde für jede/n. Dafür hat Jesus gekämpft, dafür wurde er von den Reichen und Mächtigen angefeindet, dafür wurde er verfolgt, dafür wurde er als angeblicher politischer Rebell ans Kreuz geschlagen.
Morddrohungen hatte Romero sehr viele erhalten. Am 23. März 1980, das war ein Sonntag, hielt er seine Predigt in der Kathedrale. Danach verlas er wieder eine lange Liste mit den Namen derjenigen, die in der vergangenen Woche Opfer von Gewalt und Terror durch das Militär geworden waren. Und dann kam ein inständiger Aufruf an die Soldaten, der mit einem langen Applaus in der Kathedrale bedacht wurde. Wörtlich sagte er: „Im Namen Gottes und im Namen dieses leidenden Volkes, dessen Klagen von Tag zu Tag lauter zum Himmel steigen, bitte ich Euch, flehe ich Euch an, befehle ich Euch - in Gottes Namen: Hört auf mit der Unterdrückung, mit all dem Morden und Kriegen.“ Dieser Aufruf war für die Herrschenden unerträglich. Sie beschlossen an diesem Tag seine Ermordung. Einen Tag später wurde sie ausgeführt.